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Lena Gorelik

11.-13. September, Stuttgart, die Eltern besuchen

Die Eltern besuchen.


Meine Eltern haben eine Liste mit möglichen Berufen für mich. Meine Eltern habend die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ich eines Tages einen richtigen Job finde. Ein richtiger Job ist einer mit einem regelmäßigen Gehalt.


“Publizistin, das wäre doch was für dich”, sagt mein Vater.


“Was meinst du mit Publizistin?”, will ich wissen.


“Das, was du mit diesem Sachbuch da gemacht hast. So was schreiben. Du hast doch immer eine Meinung, leicht links zwar, aber du hast immer eine.”


Meine Mutter tendiert Richtung Lateinnachhilfe, ich weiß nicht, wieso. Mein Vater schlägt Pressesprecherin vor, nachdem er sich erkundigt hat, ob man davon leben kann.


Ich lese Gary Shteyngarts Biografie, die auch irgendwie die meine ist, ich lese sie, im Bett meiner Mutter liegend, die gelbe Bettwäsche mit den Blumen, in die ich mich fallen lassen kann wie ein Kind. Der Druck, dem wir Migrantenkinder niemals entkommen: Wir sind wegen Euch gekommen. Gary Shteyngart hat auch nicht Jura studiert, und auch nicht Medizin. Er hätte auch das Zeug dazu gehabt. Gary Shteyngart lebt in den USA, aber trotzdem hilft der Gedanke.


A. holt mich ab, streichelt pflichtbewusst den Hund und quatscht noch eine Runde mit meinem Vater. Alles wie in alten Zeiten. A. ist die perfekte Mischung aus nostalgischen Erinnerungen an die erste Liebe und eine Art bestem Freund. Und A. versteht, die ganze Geschichte, die ich ihm erzähle, während wir nostalgischen Erinnerungen nachhängen und unsere Plätze ablaufen: Der Baum, unter dem wir saßen, ist Stuttgart21 zum Opfer gefallen. Es macht nichts, die Dinge sind dennoch wie früher. Du warst schon immer so, sagt er, lebenshungrig, und dann fragt er, vielleicht fehlt mir deshalb etwas, und irgendetwas antworte ich darauf, und die Dinge sind irgendwie gut. Alles wie immer.


Zuhause, bei meinen Eltern, ist auch alles wie immer. Sie sitzen vor dem russischen Fernseher, der Fernseher ist natürlich ein japanisches Problem, aber es läuft ein russischer Sender. Ich quetsche mich zwischen Hund und Papa, und freue mich an den alten Schauspielern, die Erinnerungen an den Dreh eines geschichtsträchtigen Films über Prostitution aus dem Jahre 1989 austauschen, mindestens genauso wie an der russischen Werbung. Herrlich, das Leben an sich. Das russische Fernsehen, so scheint es mir, oder sind es die Sendungen, die meine Eltern wählen, besteht aus Nostalgie: Erinnerungen an die besseren, sowjetischen Zeiten, der Hund übrigens schnarcht.


In der Familieneinigkeit schwelgend zeige ich meiner Familie ein Bild von dem Bett, das ich mir vor ein paar Wochen gekauft habe. “Tахта”, sagt mein Vater, was so viel wie eine einfache Liege bedeutet. Minimalismus ist die russische Sache nicht.

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